Im Vorlageverfahren in der Rechtssache „Gupfinger“ stellt der Europäische Gerichtshof (EuGH) klar, dass sich ein Unternehmer bei Verwendung missbräuchlicher Schadenersatzklauseln nicht auf das dispositive Recht berufen und auf dieser Grundlage Schadenersatz vom Verbraucher verlangen kann. Einer sogenannten „geltungserhaltenden Klauselabgrenzung“ durch Teilung von Klauseln in ihre zulässigen und unzulässigen Regelungsbestandteile schiebt der EuGH einen Riegel vor.
Es handelt sich um das erste Urteil des Europäischen Gerichtshofs zu den Rechtsfolgen missbräuchlicher Klauseln in einem österreichischen Anlassfall. Der VKI hat einen beklagten Verbraucher im Auftrag des Sozialministeriums im Vorlageverfahren mit seiner Expertise unterstützt.
Im Anlassfall erwarb der beklagte Verbraucher im Rahmen einer Baumesse auf dem Messestand des klagenden Unternehmers eine Einbauküche um 10.924,70 Euro. Die AGB des Unternehmers sahen für den Fall eines unberechtigten Rücktritts des Käufers vom Vertrag vor, dass der Verkäufer die Wahl hat zwischen einem pauschalierten Schadenersatz in der Höhe von 20 Prozent des Kaufpreises und dem vollständigen Ersatz des verursachten Schadens. Nach Rücktritt des Verbrauchers klagte der Unternehmer nicht auf Zahlung der Stornogebühr, sondern auf Ersatz seines höheren Nichterfüllungsschadens in der Höhe von insgesamt 5.270,60 Euro (Kaufpreis abzüglich Ersparnisse).
Die pauschale Festlegung einer Stornogebühr von 20 Prozent ist nach gesicherter Rechtsprechung gröblich benachteiligend iSd § 879 Abs 3 ABGB und damit unwirksam. Jener Teil der Klausel, der – nach Wahl des Unternehmers – stattdessen den Ersatz seines tatsächlich entstandenen Schadens vorsieht, entspricht dagegen isoliert betrachtet dem nationalen Recht (§ 921 ABGB). In seiner Vorlage an den EuGH wollte der Oberste Gerichtshof (4 Ob 131/21z) wissen, ob der Unternehmer seinen Ersatzanspruch alternativ auf das nationale Recht (§ 921 ABGB) stützen könne und ob die Klausel „teilbar“ sei mit der Folge, dass die § 921 ABGB entsprechende Regelung zum Ersatz des Nichterfüllungsschadens aufrecht bleibe.
Nach dem nun vorliegenden Urteil des Europäischen Gerichtshofs scheiden sämtliche Ansprüche des Unternehmers zwingend aus: Die Klausel entfällt ersatzlos. Die Haftungsnorm des § 921 ABGB, die in Ermangelung einer Regelung in den AGB des Unternehmers anwendbar gewesen wäre, darf aufgrund der Unzulässigkeit der Klausel nicht angewendet werden. Dies gilt auch dann, wenn der Unternehmer – wie hier – seine Ansprüche von vornherein nur auf das nationale Recht stützt und sich dafür gar nicht auf die Klausel beruft. Schließlich unterbindet der EuGH Umgehungsversuche über eine Teilung der Klausel in ihre Bestandteile: Die Haftungsklausel eröffnet dem Unternehmer die Möglichkeit, eine seinen tatsächlich entstandenen Schaden übersteigende Entschädigung zu verlangen, und muss daher als Ganzes für nichtig erklärt werden. Eine Aufspaltung der Klausel in ihre unzulässigen und zulässigen Teile mit der Folge, dass letztere anwendbar bleiben, scheidet aus.
Aus dem Urteil ist abzuleiten, dass Verbraucherinnen und Verbraucher nicht nur von jeder Haftung befreit sind, sondern dass der Unternehmer auch keinen vertraglichen Erfüllungsanspruch gegen den Verbraucher hat. Verbraucherinnen und Verbrauchern kommt daher bei Unzulässigkeit der Stornoklausel ein kostenloses Stornorecht zu.
„Der EuGH stellt in aller Deutlichkeit klar, dass die Klausel-Richtlinie aus generalpräventiven Erwägungen eine gezielte Vorteilszuwendung an Verbraucherinnen und Verbraucher bezweckt und schiebt sämtlichen Versuchen, die strengen Nichtigkeitsfolgen zu umgehen, einen Riegel vor“, resümiert Dr. Petra Leupold, Leiterin der VKI-Akademie. „Ein sorgfältig begründetes Urteil, dem erhebliche praktische Bedeutung zukommt und das grundlegend zur Rechtsentwicklung im Sinne der Konsumentinnen und Konsumenten beiträgt“, so Leupold.
SERVICE: Das Urteil im Volltext gibt es auf www.verbraucherrecht.at. (EuGH 8.12.2022, C-625/21, Gupfinger)